Wunder der Prärie I: In der Jungbuschhalle lässt die Gruppe Ligna graue Theorie zum kollektiven Gesellschaftstanz werden
Von unserem Redaktionsmitglied Ralf-Carl Langhals Man hatte ja Bilder gesehen. Man hätte es also wissen können. Das Sakko ist vorsorglich schon zu Hause geblieben. Letzte Hoffnungen schmelzen an der Abendkasse. Ein letzter selbstbewusster Versuch: Mit den Worten „Ich hasse Mitmachtheater!“ nimmt man Audiogerät und Eintrittskarte in Empfang – und gibt beim ersten Blick in den großen Saal der Jungbuschhalle plus X die Hoffnung auf, ungeschoren davonzukommen. Aus des Kritikers Dichterwinkel im geschützten Dunkel des Zuschauerraums wird heute nichts. Block und Stift werden nicht gebraucht, dafür Arme und Beine…
Nichts Geringes soll hier entstehen: „Der neue Mensch. Vier Übungen in utopischen Bewegungen“ heißt die gut 70-minütige Performance, mit der Zeitraumexit auf die Festivalzielgerade einbiegt – und beweist: Wunder der Prärie gibt es immer wieder, gerade in Mannheim. Hier war das Trio Ligna zuletzt 2007 am Nationaltheater im Rahmen der 14. Internationalen Schillertage mit „Karneval der Tiere“, einem performativen Radioparcours zur Frage nach der „Bestie Mensch“ zu Gast. Nun soll also der neue Mensch entstehen, man entwickelt sich.
Inneren Schweinehund besiegen
Ein Vorhaben, das so neu nicht ist und vor gut 100 Jahren auch von Dramatiker Bertolt Brecht, Tänzer Rudolf von Laban, dem russischen Regisseur Wsewolod Meyerhold oder auch Komiker Charlie Chaplin theoretisch eingefordert wurde. Ligna hat sie exemplarisch aus einer Strömung herausgesucht, die durchaus von Körper- auf Selbst- zum politischen Bewusstsein drängte. An deren Lehren und Beobachtungen arbeiten sich nun 60 Menschen auf vier Quadratmeter pro Zuschauer ab, nicht nur theoretisch, auch praktisch: „Bühne ist Fernrohr, Bühne ist Lupe“ brüllen die einen, während andere mit geschlossenen Augen sitzen, wieder andere schwitzen, weil sie körperliche Aufgaben erfüllen, die ihnen per Ohrstöpsel eingeflüstert werden. Das Laban’sche Zusammenspiel der einzelnen Gliedmaßen und ihre Rolle in einer Bewegung macht Mühe, doch – wer hätte es gedacht – das Verhältnis des Körpers zum ihn umgebenden Raum körperlich zu erforschen (Laban nennt ihn „Kinesphäre“), macht allmählich Spaß!
Freilich muss – wie immer beim Sport – erst der innere Schweinehund besiegt sein. Und nicht nur der. Das „Ich mache mich doch hier nicht zum Affen!“ – weitaus schwieriger – muss ebenfalls ausgeschaltet werden. Erstaunlich: Ein kollektiver Sog entsteht durch einsetzende Freude an der Bewegung, verdrängt Scham und Peinlichkeit. Es „verweigert“ niemand. Selbst als man vor einem Stuhl knien soll, auf dem ein wildfremder Mensch sitzt, wird das vehement einsetzende Unbehagen durch Brechts (akustisch zugeleitete) Erkenntnis über Positionen in Raum und Gesellschaft durch die eigene räumliche Situation zum Erkenntnisgewinn.
Publikum gibt es nicht, es ist Ensemble und dazu aufgefordert, sich die Bühne in einer bewegungsintensiven Interaktion anzueignen – und Theater als Ort der Repräsentation infrage zu stellen. Es wird gebrummt, gebrüllt, geboxt, geschwebt, gestakst, gestreckt, gerannt, gestanden, verstanden – und gelebt. Das ist ein verschwitztes Hemd wert. Irritiert, aufgekratzt, erleichtert – und mit veränderter Körperhaltung – steht man in Mannheim, wo einst einer sagte: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“, es war Schiller – und er hatte wieder einmal recht.
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