Die junge Kulturjournalistin Franca Wittenbrink beobachtet für uns einzelne Festivaltage. Hier ihre ersten Eindrücke:
Gemeinsam entscheiden, gemeinsam tanzen, gemeinsam schlafen: „Wunder der Prärie“ - Die feierliche Eröffnung
Noch einmal kurz die Bänke abwischen, hoffen, dass es nicht wieder anfängt zu regnen, dann kann es losgehen. Irgendwo wird noch ein Bügeleisen gesucht, dann klirren die Sektgläser und Jan-Philipp Possmann steigt auf das kleine Treppchen im Innenhof. Nach Tagen, Wochen, Monaten der Vorbereitung ist es endlich so weit: Donnerstagabend im zeitraumexit, 19 Uhr, die zehnte Ausgabe des Festivals „Wunder der Prärie“ wird eröffnet.
„Wir dachten, es wird schönes Wetter - deshalb ist das hier eine Outdoor-Veranstaltung“, begrüßt Possmann die Besucher, die sich im Halbkreis um den Leiter des Kulturhauses aufgestellt haben. Unter dem Motto „Social Body Building“ konzentriere sich das diesjährige Festival auf die Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Zuschauern, leitet Possmann den Abend ein, viele der Produktionen setzen daher auf Publikumsbeteiligung. Und genau damit geht es dann, nach zwei kurzen Grußworten des Kulturbürgermeisters Michael Grötsch und des kulturpolitischen Sprechers der Grünen im Landtag, Manfred Kern, auch direkt los.
Im dunkelblauen, majestätischen Kleid wird Tanja Krone in einer feierlichen Zeremonie durch den Innenhof ins Festivalzentrum getragen. In der aus Holz gebauten „Arena“ haben sich bereits einige Zuschauer zusammengefunden, bald sind alle Plätze belegt. „Ich bin die Herrschaft der Kunst“, verkündet die Königin von ihrer Sänfte herab, und gleich darauf: „Um was es hier geht, ist meine Abschaffung.“
Ein ironisches Spiel? Keineswegs. Unter dem Titel „Artfremde Einrichtung“ wird während des diesjährigen Festivalzeitraums ein spontaner Konvent tagen, der über die zukünftige Bespielung der Kultureinrichtung bestimmen soll. In einem Experiment auf Zeit will Possmann seine Programmhoheit über zeitraumexit abgeben, Räume und Infrastruktur jeder und jedem in den folgenden acht Monaten für einen Zeitraum von je vier Wochen zur Verfügung stellen, der daran interessiert ist.
„Man muss weder Künstler noch Kommunalpolitiker noch Bürgermeister sein, um hier mitzumachen“, erklärt Possmann dem Publikum. „Wer will, kann hier auch vier Wochen lang Fußpflege machen.“ Dafür bekomme er die Räume von zeitraumexit frei zur Verfügung - Infrastruktur und Arbeitskräfte inklusive. Die einzige Herausforderung: die Gemeinschaft muss davon überzeugt werden. Und da beginnt das Problem bereits. Wer ist das überhaupt, die Gemeinschaft? Das Publikum? Die Künstler? Was ist mit den Anwohnern und den übrigen Mannheimern? Und warum eigentlich nur Mannheimer? Wer darf entscheiden? Und vor allem: Wie wird überhaupt entschieden? Per Wahl? Per Losverfahren? Per Orakel? Welche Projekte sind zugelassen? Grundsätzlich alle - also auch offene Türen für rassistische und faschistische Ideologien? Der Definitionsbedarf ist groß - die Verwirrung auch. Feststeht: es ist ein gewagtes Projekt.
In Decken gewickelt sitzt das Publikum unter den Planen des Festivalzentrums, immer wieder beginnt es leicht zu nieseln. Gegen die Kälte gibt es heißen Tee, ein junger Mann bedient sich an den kleinen Fruchttörtchen, die auf einem Tablett bereit stehen. Ansonsten: vorsichtige Zurückhaltung unter den Zuschauern - Was genau soll das hier eigentlich werden?
Dann übernimmt Thomas Wagner, Soziologe und Teil des „Expertenrats“, der jedem Konvent beiwohnen soll, das Wort. Was ist Kunst? Und was soll Kunst sein? Es geht an den Kern des Projekts: „Ich frage mich, ob ein Beteiligungsprojekt in diesem Rahmen überhaupt sinnvoll ist“, wirft Wagner in den Raum. In einer Zeit, in der das Thema Basisdemokratie sich immer größerer Zustimmung erfreue, in der bei sämtlichen politischen Prozessen zum Mitmachen aufgefordert werde und selbst Merkel mit einem Bürgerdialog durch Deutschland toure: „Wo ist da die Rebellion bei einem solchen Projekt?“ Und weiter: „Wäre es nicht richtig, gerade in einer Zeit, in der sich starre Institutionen immer weiter auflösen, auf bestimmten, vorgegebenen Maßstäben in der Kunst zu beharren?“
Also die Grundsatzfrage. Ist die Kunst das nötige Gegenüber der Demokratie? Die letzte, weil notwendige, Bastion der Monarchie? Der Künstler, in einer freien, demokratischen Gesellschaft, gleich Souverän? „Berechtigte Fragen“, findet auch Possmann, und trotzdem: „Leider führt das in vielen künstlerischen Betrieben zu nicht sehr angenehmen, feudalen Strukturen.“ Eine Anspielung auf die Zustände deutscher Staatstheater? Das Thema jedenfalls scheint aktueller denn je - erst vor wenigen Tagen konstatierte die Süddeutsche Zeitung anlässlich der Volksbühnen-Spielzeiteröffnung unter Chris Dercon: „Es scheint höchste Zeit zu sein für eine kritische Selbstbefragung des deutschen Theatersystems, ob hinter dem schönen Anschein der Kunstfreiheit (…) nicht doch noch sehr hässliche Gepflogenheiten überdauern, die selbstgerecht, grenzverletzend und zutiefst undemokratisch sind.“
Vielleicht also doch keine schlechte Idee, das Partizipationsprinzip einzuführen? Schon meldet sich der nächste Kritiker zu Wort: „Das ist doch eine feige Geschichte“, findet einer der Zuschauer, „Unter dem Deckmantel der Mitbestimmung kneift zeitraumexit vor der künstlerischen Verantwortung.“ Damit ist die nächste Debatte angestoßen: Wem nützt es eigentlich, ein Beteiligungsprojekt einzuführen? Welche Machtpositionen verbergen sich dahinter? Partizipation zur Legitimation der eigenen Herrschaft? Es geht ans Eingemachte.
Im Innenhof ist es mittlerweile dunkel geworden, bunte Lampions beleuchten die hölzerne Arena, die Wände der Gebäude sind grün angestrahlt. Es wird zunehmend frösteliger, und trotzdem: die Stimmung im Publikum hat sich gelöst. „Ich finde wir sollten jetzt mal aufhören mit diesem ganzen theoretischen Gerede“, ergreift Zahra Deilami, Gleichstellungsbeauftragte und ebenfalls Mitglied des „Expertenrats“, das Wort. Es gehe schließlich um „ein konkretes, ja ein fantastisches Angebot“, das alles andere als selbstverständlich sei. „Ich kenne so viele Leute, die Ideen für ein Projekt haben, aber keinen Raum, in dem sie sich ausprobieren können“, erzählt Deilami. „Hier entsteht ein soziales Labor, eine riesige Chance - jetzt muss es doch darum gehen, sie zu ergreifen! Also, Leute: Was machen wir draus?“
Die Frage bleibt offen. Es ist spät geworden, kurz nach neun, der Konvent ist fast beendet. „Wollen wir nicht zumindest entscheiden, wann wir entscheiden, wie wir entscheiden?“ versucht es ein Teilnehmer noch kurz vor Schluss. Auch dazu kommt es nicht mehr. Am Ende des Festivals soll ein demokratisches Regelwerk für die Bespielungs-Vergabe stehen - geklärt ist bisher jedoch nur weniges. Startschuss für ein ebenso komplexes wie mutiges Experiment mit offenem Ausgang - man darf gespannt bleiben.
Im Innenhof geht es nach Konvents-Schluss munter weiter. Es gibt Drinks und Focaccia, aus dem Nebenraum tönt Musik - mal lauter, mal leiser, mal schneller, mal langsamer: „Dance in the Volcano“ nennt Rodrigo N. Albornoz seine Installation, die sich als Disco mit umgekehrten Regeln versteht und die Besucher dazu einlädt, den Takt selbst zu bestimmen. Auf der Tanzfläche hat sich ein kleines, gut gelauntes Grüppchen eingefunden, ständig verändern sich Geschwindigkeit und Lautstärke der Musik. Aber wie das mit den Bewegungen der Tänzer zusammenhängen soll? Ein junger Mann rennt versuchsweise im Kreis, reckt die Arme in die Höhe - nichts passiert. Vielleicht muss man sich kollektiv bewegen? Oder bestimmte Sensoren erreichen? Wie auch immer, Spaß zu machen scheint es allemal.
Dann das Gegenprogramm. Um 22 Uhr startet die zweite Vorstellung von David Weber-Krebs’ „Guardians of Sleep“. Noch vor dem Betreten des mit blauem Teppichboden ausgelegten Theaterraums wird das Publikum in sechs Gruppen aufgeteilt, die Handys auf Flugmodus gestellt. Jedem der Grüppchen setzt sich schließlich einer der Performer gegenüber, in der Hand ein Tablet, und zeigt Fotos: Von der Hochzeit der Schwester, dem Familienurlaub in Spanien, der Katze der besten Freundin. Ein Bild reiht sich an das nächste, wird kurz kommentiert, dann wird auf dem Bildschirm weitergewischt. Und weiter und weiter und weiter. Die Minuten vergehen, die Stimmen werden lauter. Immer schneller wird gewischt, immer kürzer kommentiert: Ich, nächstes Bild, ich, nächstes Bild, Bücher, nächstes Bild, Kiwi, nächstes Bild, ich, ich, ich, Haus, ich, Katze, ich, ich, ich… und dann plötzlich: Ruhe. Mit geöffneten Augen liegen wenige Sekunden später alle sechs Performer auf der Bühne, bewegungslos betrachten sie das Publikum - und das Publikum sie. Nach und nach wird das Licht dunkler, einige Blicke wandern durch den Raum, irgendwann streckt sich der erste Besucher auf den Stufen der Zuschauertribüne aus. Ein Pärchen macht es ihm nach, kuschelt sich zusammen, andere bleiben bewegungslos sitzen. Ansonsten passiert: nichts. Wer schläft, wer bleibt wach? Auch die Performer schließen die Augen, öffnen sie wieder, nehmen Blickkontakt auf. Wer beobachtet hier eigentlich wen?
So geht es weiter, bis das Licht schließlich ganz erloschen ist. Ein müdes, nachdenkliches Publikum wird gegen 24 Uhr in den Innenhof entlassen, für die einen geht es noch in die Bar, andere verabschieden sich nach Hause. Nicht für lange allerdings: der zweite Tag startet schon bald.
Franca Wittenbrink hat Kulturwissenschaft, Politik und Philosophie an der Universität Lüneburg studiert und ist seither als Journalistin für das Hamburger Abendblatt, die Stuttgarter Zeitung und die Süddeutsche Zeitung tätig.